Literatur und szenisches Lernen

Lebensgeschichtliche Erfahrungen, die mich zur Szenischen Interpretation gebracht haben (2008)

lch wurde am 25.7.1938 in Berlin-Spandau als viertes von sieben Kindern geboren und wuchs in der großen Familie vor allem zwischen meinen Schwestern auf. Mein Vater war Dozent an der Hochschule fur Leibeserziehung in Berlin-Spandau, Schriftsteller und  Arbeitsdienstführer im Reichsarbeitsdienst. Er stammte — wie meine Mutter auch – aus der Jugend- und Turnerbewegung, schrieb Romane, Heimatgedichte, Laien- und Festspiele und war im Arbeitsdienst fur die Feiergestaltung (u.a. auf Reichsparteitagen) zuständig. Meine Mutter war Sport- und Gymnastiklehrerin, kümmerte sich damals aber vorwiegend um die große Familie. Kulturell-ästhetische Aktivitaten waren für mich von Anfang an selbstverständlich: wir Iebten in einem Haus, das meine Eltern 1933 im Bauhausstil errichtet hatten, es wurde viel gespielt, gesungen, vorgelesen, gewandert, geturnt, Theater gespielt und gefeiert – allerdings mit lnhalten, die zur Zeit ,,passten“: Volk, Heimat, Natur, Garten, Mutter und Kinder, Arbeit und Soldatentum — also ,,Blut und Boden“usw.
Diese Traditionen wurden in unserer Familie auch nach dem Zusammenbruch des ,,Dritten Reiches“ 1945 noch eine Zeit lang aufrecht erhalten. Mein Vater war bis 1949 in russischer Gefangenschaft, meine Mutter musste die sieben Kinder durchbringen. Wir wurden früh in den Turnverein geschickt, meine großen Brüder gründeten bündisch orientierte Turnerjugendgruppen, in denen wir jüngeren Geschwister neben der Schule einen großen Teil unserer Freizeit verbrachten: dort wurde — wie in der Familie — gesungen, vorgelesen, diskutiert, Theater gespielt, getanzt, an den Wochenenden waren wir mit dem Fahrrad unterwegs, zelteten, führten Geländespiele durch. Die Gruppen wurden von meinen älteren Brüdern geleitet, wobei viele Traditionen und lnhalte der Hitlerjugend bzw. der bündischen Jugend noch eine Rolle spielten. Später wurden sie dann zunehmend liberaler und sozialdemokratischer. Wichtig war damals für mich neben dem Turnen das Stehgreifspiel und das Laienspiel, zu dem mein Vater nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft die Stücke schrieb: Jugendstücke, aber auch Festspiele, die relativ pathetisch das Elend der Nachkriegszeit darstellten und die Turnerbewegung verherrlichten. Während der Pubertät begann ich mich dann mit meinem Vater auseinanderzusetzen und mich abzugrenzen, vor allem von seinem Pathos, seinem Verständnis von Literatur und Laienspiel, später auch mit seiner Rolle als Schriftsteller im ,,Dritten Reich“.
ln der Schule war ich eigentlich immer ein ,,schlechter“ Schüler: ich war schüchtern, still und zu langsam. In der Grundschule sieben Mal umgeschult, begriff ich im Gymnasium eigentlich nur wenig, allerdings verstanden auch die Lehrer, die uns nach 1945 unterrichteten, inhaltlich und pädagogisch nicht viel. lch versteckte mich, wurde nicht gesehen, stotterte, wenn ich dran kam, war nicht in der Lage zu bluffen und wurde rot, wenn mir eine Antwort misslang bzw. ich bei einem Sprachfehler erwischt wurde. Ich blieb zweimal Sitzen und wäre beinahe durch das Abitur gefallen. Weil ich mich neben und nach der Jugendgruppenzeit ziemlich einsam fühlte, flüchtete ich mich in die Literatur und das Theater. lch las mich — angeleitet durch ein Buch, das ich bei meinem Vater gefunden hatte (Hermann Glaser, Weltliteratur der Gegenwart. Dargestellt in Problemkreisen), quer durch die moderne Weltliteratur: Hofmannsthal, Rilke, Trakl, Heym, Kafka, Thomas und Heinrich Mann, Musil, Broch, Döblin, Brecht, Hemingway, Faulkner, Joyce, Sartre, Camus, Proust,  Lorca, Beckett, Böll, Grass, Eich, Celan, Bachmann usw., aber ich las auch Gedichte, Dramen, Romane und autobiografische Schriften von Goethe. Ich war ständiger Besucher der Stadtbibliothek und lieh mir die Bücher aus, die ich in der Regel abends und in der Nacht las, weil sich das nach Meinung meiner Mutter am Tag nicht gehörte. Ich identifizierte mich mit den Figuren und spielte in deren Perspektive die entworfenen Situationen und sozialen Dramen durch. Dabei lernte ich mir neue und fremde Welten, Ereignisse, Haltungen und Verhaltensweisen kennen, die meinen Blick auf meine soziale Umgebung im konservativen Celle während der Adenauerzeit beeinflussten. Ich ging regelmäßig ins damals relativ fortschriftliche Celler Schlosstheater, saß dort vorne, wo ich auch die Bühnenaufbauten sehen konnte. Ich las die Stücke vorher, kannte einige Schauspieler persönlich und schrieb für mich kleine Kritiken. Und ich lernte Gedichte auswendig, die mich berührten, sprach sie immer wieder laut vor mich hin und interpretierte mit ihnen meine Probleme und Gefühle.
So lebte ich – von der Familie und von der Schule fast unbemerkt – in der Literatur bzw. in literarischen Welten, die ich mir angeeignet hatte. Gesprächspartner und Freunde bzw. Freundinnen hatte ich dabei keine, erst in den letzten zwei Jahren vor dem Abitur fand sich eine kleine Gruppe von Schülern zusammen, die sich “ihre” Texte und Autoren vorstellten und gemeinsam diskutierten.

Erst kurz vor dem Abitur – ich war inzwischen 20 Jahre alt – ,,entdeckte“ mein literarisch ungebildeter Deutschlehrer meine Kenntnisse und Fähigkeiten und ließ mir freie Hand. Das rettete mir das Abitur, weil ich so meine mündliche Deutschprüfung über  Robert Musils ‘Mann ohne Eigenschaften’ und Fragestellungen des modernen Romans nach Belieben inszenieren konnte.
Damals entschloss ich mich, Lehrer zu werden. Ich wollte jungen Menschen einen eigenständigen Zugang zur Literatur und zum Theater verschaffen. Deshalb studierte ich Germanistik, Theaterwissenschaften und Sport in Hamburg, Göttingen und Marburg, geriet aber nach kurzer Zeit in eine ähnliche Situation wie in der Schule. Ich musste mich mit literatur- und sprachwissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen, die mich wenig interessierten. Eigene Zugänge zu literarischen Texte waren nicht gefragt, die Texte wurden in der Sekundärliteratur “ertränkt”. Ich half mir, indem ich mich bei Seminararbeiten zunächst in meiner Weise mit den Primärtexten auseinandersetzte und erst anschließend Sekundärliteratur zur Hilfe nahm, um die geforderten wissenschaftlichen Duftnoten zu setzen. Ich studierte zwar Dramen- Roman- und Lyrik-Geschichte, las aber in meiner Freizeit Texte, die mich persönlich interessierten, auf meine Weise. Anregender waren für mich philosophische und pädagogische Seminare. In Göttingen setzte ich mich vor allem mit Kant und Schiller auseinander. Die ,,Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von Schiller entwarfen ein Thema, das mich später und bis heute immer wieder beschäftigt hat: Was kann eine ästhetische Erziehung, was kann das Spiel zur Bildung einer sozial und politisch verantwortlichen Persönlichkeit beitragen. Pädagogisch begleitet und angeregt hat mich damals in Göttingen  Hartmut von Hentig, der dort gerade eine Professur angenommen hatte und der in seinen historischen Vorlesungen, aber auch bei der Auseinandersetzung mit allgemeinen pädagogischen Fragestellungen auf subjektive Zugänge und dem Erfahrungsbegriff bestand. Bei ihm machte ich dann auch mein pädagogisches Staatsexamen, bei dem ich mit Begriffen der Schillerschen Spieltheorie das pädagogische Kollektiv von Makarenko analysierte und kritisierte.
Meine Vorstellungen vom Umgang mit Literatur konnte ich erst später (nach meinem Referendariat an einem konservativen Gymnasium in Osnabrück, bei dem ich mich ständig mit dem Fachleiter anlegte, weil ich Brecht und Beckett bevorzugte und mich weigerte, mich im Frontalunterricht theatralisch zu inszenieren) 1968 in Bielefeld angehen. Als Assessor an einem Jungengymnasium bemühte ich mich, den Schülern neue Zugänge zur Literatur zu verschaffen: ich experimentierte in der 5. Klasse mit Kafka -Texten und ließ Schüler der 11. Klasse dabei hospitieren. Ich ließ freie Aufsätze zu literarischen Texten schreiben, ging mit den Schülern in Dichterlesungen, veranstalteten neben dem Unterricht Schreibseminare, in denen die Jugendlichen ihren eigenen literarischen Stil finden konnten. Die Wirkungen waren widersprüchlich: eine Reihe von Schülern entdeckte über das

Schreiben von Gedichten, Geschichten und Szenen ihr lnteresse an  Literatur, andere fanden keinen Zugang und fühlten sich, wie ich später erfahren habe, überfordert und abgewertet.
Meine persönlichen und politischen Interessen galten damals neben der Literatur dem neuen französischen Film und seiner Ästhetik: hier entdeckte ich bildliche Zugänge zur sozialen Realität, die ich in analoger Weise auch in der Literatur gefunden hatte. Der politisch und sozial engagierte Film mit seinen Bildern, Montagen, Brechungen und Verfremdungen hat in der Folge meine Wahrnehmung, Inszenierungen und Deutungen von Literatur mehr beeinflusst als das Theater.
Meine unkonventionelle Unterrichtsweise im Deutschunterricht stieß im Kollegium auf erheblichen Widerstand. Man legte mir nahe, die Schule zu
wechseln, was ich ohnehin vorhatte, da ich in der Planungskommission für eine Gesamtschule mitarbeitete. Hier übernahm ich dann Anfang 1970 die didaktische Leitung des Faches Deutsch und wurde dann in ganz anderer Weise mit meinen Fragen konfrontiert. lch unterrichtete in einer 5. Klasse Deutsch, die zu drei Vierteln aus Kindern zusammengesetzt war, die aus Arbeiterfamilien kamen. Diese Schüler und Schülerinnen ,,verstanden“ mich nicht, gingen über Tische und Bänke oder spielten Karten. Alle meinen ,,kreativen“ Unterrichtseinheiten nutzten nichts: ich verstand sie nicht und sie mich auch nicht. Ein Durchbruch gelang mir erst, als ich spontan beschloss, in einer Deutschstunde mit ihnen ein Geländespiel durchzuführen: ich schickte die eine Hälfte der Klasse in einen nahe gelegenen Wald, wo sie sich verstecken sollte, und folgte ihnen nach einiger Zeit mit den übrigen. Auf dem Weg berieten mich in sprachlich differenzierter Weise Schüler und Schülerinnen, die im Klassenraum stumm waren bzw. mit denen ich bis dahin nur wenige Worte gewechselt hatte. Mir wurde plötzlich klar, dass es nicht die Themen, sondern die Kommunikationssituationen waren, die einen fruchtbaren Unterricht im Klassenraum verhindert hatten. In der Folge stellte ich ein ausgedientes Auto auf den Schulhof und ließ mir im Deutschunterricht von den Schüler/innen erklären, wie das funktioniert. Im übrigen hatte ich erste Erfolge mit Rollenspielen, in denen sich auch bisher schweigsame Jugendliche differenziert in ihren Rollen darstellten.
Nach dem Scheitern eines von mir geplanten und organisierten schulübergreifenden Projekts zum Thema ,,Sport“ – vor allem an der mangelnden Kompetenz der Kollegen und Kolleginnen, die sich weigerten, das lnteresse der Schüler/innen an praktischer sportlicher Betätigung, die an der Schule vernachlässigt wurde, ernst zu nehmen, ging ich Anfang 1973 als Planer für den Modellversuch Einphasige und integrierte Lehrerausbildung als Projektstudium an die Universitat Oldenburg. Dabei leitete mich die Hoffnung, zum Aufbau eines praxisnahen Studiums beitragen zu können, in dem die Probleme, die ich an der Schule erlebt hatte, untersucht werden und Studierende für eine andere Lehrpraxis qualifiziert werden konnten. In diesem Studium sollten Hochschullehrer, Studierende und Lehrer/innen aus allen Schulformen in Projekten an gesellschaftlich relevanten Themen in der Schule und in der Hochschule zusammenarbeiten. Lehrer/innen aus Schulen der Region wurden zu diesem Zweck freigestellt und sollten den Studierenden, die in den Semesterferien Erkundungen und Unterrichtsprojekte durchführen und schließlich ein unterrichtspraktisches Halbjahr absolvieren mussten, den Zugang zur Praxis ermöglichen. Um meine Planungen in der Praxis zu erproben, übernahm ich 1974 eine Hochschullehrerstelle mit dem Schwerpunkt “Curriculumentwicklung in Bereich Kommunikation und Ästhetik“ und führte Erkundungen und Unterrichtsprojekte mit Studierenden der Facher Deutsch, Kunst, Musik, Politik und Geschichte in allen Schulformen durch. Dabei konzentrierte ich mich aufgrund meiner Erfahrungen in der Gesamtschule zunächst vor allem auf Haupt- und Sonderschulen. Wir begleiteten Klassen ganze Vormittage lang und beobachteten, wie sie und wir mit dem reglementierten Schulalltag umgingen. Und wir stellten fest, dass die Jugendlichen mit ihren körper-, situations- und gruppenbezogenen Lern-, Kommunikations- und lnteraktionsweisen in einem Unterrichtssystem scheitern mussten, das lehrerzentriert nur normierte individuelle Leistungen erwartete. Wir erprobten dann anschließend in der Universitat, aber auch im Unterricht sinnlich-ästhetische Lernweisen, die den Schüler/innen entgegen kommen konnten: wir ließen sie fotografieren und ihre Bilder selbst entwicken, Interviews durchführen, Text- und Bildkollagen anfertigen, Situationen spielerisch erarbeiten und darstellen. Dabei ging es mir um einen Unterricht, in dem sich alle Beteiligten allein und zusammen mit anderen an Themen eigene Erfahrungen aneignen, bewusst machen und mit dem Wissen und den Erfahrungen anderer erweitern konnten (vgl. mein Buch ,,Erfahrungsbezogener Unterricht“, 1981). Dass das nur in Einzel- und Gruppenarbeit und nur mit präsentativ-ästhetischen Aneignungs- und Verarbeitungsformen möglich war, war mir von vorherein klar, nicht aber welche Lernweisen besonders geeignet waren. Schon bald stellte sich heraus, dass es das szenische Spiel, das Handeln in vorgestellten Rollen und Situationen, war, dass Haupt- und Sonderschülern die beste Möglichkeiten eröffnete, sich in ihrer Weise darzustellen und zu zeigen, wie sie Menschen,  Situationen, Probleme oder Themen sahen und deuteten. Dabei ging es nicht um darstellendes Spiel, also um das Laienspiel, wie ich es als Kind in den lnszenierungen meines Vaters erlebt hatte, sondern um ein szenisches Spiel, in dem jeder jede Rolle übernehmen, sich in die Rolle einfühlen und im Spiel eigene Vorstellungen und Verhaltensweisen zeigen und sich bewusst machen konnte.
ln der Folge habe ich mich dann meine Lehr- und Forschungspraxis auf das szenische Spiel konzentriert. Ich habe mich theoretisch und praktisch mit Verfahren des Rollenspiels, des Sozio- und des Psychodramas, der Theaterpadagogik und der Schauspielausbildung auseinandergesetzt – immer im Hinblick auf die Frage, welche Themen, Perspektiven und Zugänge sie in den Blick rückten, welche Lernmöglichkeiten sie uns und Schüler/innen im Spiel eröffneten und wie sie unter den Bedingungen der Schulen und des Unterrichts praktiziert werden konnten. Dabei spielten von Anfang an literarische Texte — vor allem Szenen aus Jugendstücken (etwa des GRIPS-Theaters oder des Theaters “Rote Grütze”), aber auch Erzählungen – eine wichtige Rolle. Diese stellten den Jugendlichen in ihrer Sprache Rollen- und Handlungsmuster zur Verfügung, die ihnen helfen konnten, ihre bisherige Erfahrungswelt zu verlassen und sich mit neuen und fremden Lebenssituationen auseinanderzusetzen. Dabei konzentrierten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst weniger auf die Texte als auf die Verfahren, mit denen sich die Schüler/innen Schritt für Schritt in fremde Rollen und Szenen einfühlen, in den literarisch vorgegebenen Figuren und Szenen agieren und das im Spiel gezeigte Verhalten reflektieren konnten.
Das Konzept der szenischen Interpretation literarischer Texte entstand dann allerdings in einem anderen Kontext. Als im Jahr 1977 die Bader-Meinhof-Gruppe Generalbundesanwalt Buback ermordete, veröffentlichte eine studentische Gruppe in Göttingen unter dem Namen ,,Mescalero“ ein Flugblatt, in dem sie zunächst ihre ,,klamm-heimliche Freude“ benannte, um danach diese Phantasie zu reflektieren und zu dem Schluss zu kommen, dass solche Gewaltakte abzulehnen seien. Die mediale und politische Öffentlichkeit, die nur die ,,klammheimliche Freude“ zur Kenntnis nahm, reagierte mit Empörung und Kriminalisierung. lch hielt die Veröffentlichung und Reflexion von Gewaltphantasien für notwendig, weil nur so verhindert werden konnte, dass diese irgendwann mal unkontrolliert in Handlungen umschlugen. lch begann damals mit Studierenden Lehrstücke von Brecht zu spielen. Reiner Steinweg hatte in umfangreichen Studien nachgewiesen, dass diese Stücke nicht für die Bühne, sondern für das Spiel und die politischen Bildung von Gruppen nach der Revolution geschrieben wurden. Die Texte entwarfen auf einer abstrakten Ebene auf Gewaltsituationen zugespitzte Szenen und Handlungsmuster, die die Teilnehmer/innen im Spiel darstellen und untersuchen sollten, welche Haltungen sie in der Rolle von Tätern und Opfern einnahmen bzw. einzunehmen in der Lage waren. Es ging also darum herauszufinden, wie man sich in extremen Handlungssituationen möglicherweise gegen den eigenen erklärten Willen verhalten konnte, und um die Erprobung alternative Verhaltensweisen. Das war möglich, wenn sich die Spieler/innen so in die Figuren einfühlen konnten, dass sie im Spiel der Szenen Haltungen und Verhaltensweisen zeigten, die sie auch in analogen Realsituationen zeigen würden bzw. könnten, und wenn diese Haltungen von anderen beobachtet, gespiegelt und szenisch reflektiert wurden.
Nach einer Reihe von Spielversuchen mit Studierenden und Lehrer/innen reichten mir die auf Gewaltsituationen zugespitzten Lehrstücktexte, die im Kontext politischer und sozialer Bewegungen eine wichtige Rolle spielen konnten, nicht mehr aus. Mir war es wichtig, dass sich Studierende und Schüler/innen auch mit anderen Problemen, Rollen, Situationen und sozialen Dramen auseinandersetzten und das eigene und das Verhalten anderen Menschen in ihnen studierten. Und wo gab es bessere Vorgaben dafür als in Dramentexten. Wir experimentierten zunächst mit “offenen” Dramen (mit Georg Büchners ,,Woyzeck“ und Frank Wedekinds ,,Frühlings Erwachen“), später wandte ich mich dann dem geschlossenen Drama zu, suchte nach szenischen Zugängen zu Kurzgeschichten, Romanen, Filmen und auch Bildern. Dabei konzentrierte ich mich immer wieder auf solche Texte, die zum Standardrepertoire des Gymnasiums gehörten, auch weil es mir darum ging, Lehrer/innen und Schüler/innen einen neuen erfahrungs- und handlungsbezogenen Zugang zu diesen Texten zu eröffnen.
Bei dieser Arbeit habe ich die Interpretationsverfahren ständig erweitert und so verfeinert, dass sie auch unter den Bedingungen des alltäglichen Unterrichts praktiziert werden konnten. Mitte der achtziger Jahre begann ich dann mit Fortbildungen: Lehrer/innen sollten am eigenem Leib erfahren, was sie bei der szenischen Interpretation Iernen konnten und dann lernen, szenische Interpretationen mit ihren Schüler/innen durchzuführen. Ich bot Trainingsseminare für Spieleiter/innen an, publizierte für einzelne Dramen Verlaufsmodelle und Materialien mit Hinweisen zur Spielleitertätigkeit. In meinem Buch ,,Szenisches SpieI“(1996) habe ich dann die Verfahren zusammengetragen und mit Spielleiterhinweisen versehen, in dem Buch ,,Szenische Interpretation“ (2004) entwickelte und begründete ich das Interpretationsverfahren theoretisch, steIIte noch einmal systematisch Verfahren dar und gab Anregungen für die szenische Interpretation zahlreicher Dramen, Kurzgeschichten und Romane. Schließlich habe ich dann 2008 Materialien (Bilder, Rollentexte,Kleiderbeschreibungen u.a.) für die Interpretation von 17 Dramen veröffentlicht. ( vgl. Szenische Interpretation von Dramentexten, 2008).