Lebensschritte – Stationen aus meinem Leben

Stationen aus meinem Leben (2008/2013)

Ich bin 70 Jahre alt geworden – ein Anlass, um über meine Lebensgeschichte nachzudenken. Wer war ich, wie bin ich geworden, welche Ereignisse haben mich geprägt, wie habe ich sie verarbeitet? Welche Kontinuitäten hat es gegeben, welche Brüche? Natürlich erzählen wir uns unsere Geschichte selbst und wir erzählen sie uns immer wieder neu. Und viele Dinge, die uns damals wichtig waren und die uns geprägt haben, kommen in diesen Erzählungen nicht mehr vor. Das gilt auch für die folgenden Skizzen, die sich relativ willkürlich auf bestimmte Daten beschränken: ich versuche zu beschreiben, was ich erlebt und getan habe, als ich 10, 20, 30, 40 usw. Jahre alt war und wie ich mich damals gefühlt habe. Als ich klein war, wollte ich Gärtner werden, und Pflanzen haben mich immer fasziniert. Und immer waren es gelesene oder selbst geschrieben Gedichte, in denen ich meinen Gefühle Ausdruck gegeben habe. Um nicht nur „vernünftig“ zu erzählen, werde ich deshalb bei der Skizzierung der Jahre immer auch die Pflanzen nennen, die mir damals wichtig waren, und die Gedichte, die mein Lebensgefühl zum Ausdruck brachten.

1938
Am 25. Juli werde ich als viertes von sieben Kindern in Berlin-Spandau geboren. Wie das gewesen ist, weiß ich natürlich nicht. Auf jeden Fall hat mich eine Frage später immer wieder beschäftigt: in der Pubertät, bei der Begegnung mit Frauen, in der Therapie und bei meiner Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“: Wie reagierten meine Eltern 1938 auf die Tatsache, dass ich mit einer Lippenspalte bzw. Hasenscharte auf die Welt kam? Mein Vater war Oberarbeitsdienstführer, und nur „gesunde“ Kinder bekamen die Ehrenpatenschaft von Hitler, neben der Ehre immerhin etwa 100 Mark im Monat. Wie dem auch sei: Ich werde Ingo genannt (nach dem Roman „Ingo und Ingraban“ von Gustav Freitag), bekomme wie alle Jungen der Familie ein Lieblingstier (die Mädchen bekamen Lieblingsblumen) zugeteilt: den Braunbären (mein Vater schrieb zu der Zeit an einem Jugendroman mit dem Titel „Ingo und der Bär“); außerdem eine Lieblingsfarbe (braun) und schließlich einen Lebensspruch, der während meiner Kindheit und Jugend auf einem Holzschild über meinem Bett hing:

Tugendsam und tüchtig,
rein und ringfertig,
keusch und kühn,
wahrhaft und wehrhaft…

„… das ist echte deutsche Lebensart“, endete der Spruch von Ernst Ludwig Arndt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Später habe ich mir diesen Spruch häufiger angesehen und gedacht, dass ich einiges davon in meiner Haltung wiederfinden konnte.

1948
Wir leben – meine Mutter und wir sieben Kinder – im Haus meines Großvaters in Celle. Mein Vater ist noch in russischer Kriegsgefangenschaft, meine Mutter hat das Fahrradgeschäft ihres Vaters, der gestorben war, übernommen und muss uns durchbringen. Während meine beiden großen Brüder aufs Gymnasium gehen, verbringe ich mit meinen vier Schwestern den Sommer über in einem Wochenendhaus auf dem Lande, wo meine ältere Schwester und ich dann auch in die Dorfschule gehen. Das Leben auf dem Land habe ich in guter Erinnerung: das Milchholen, die Heuernte und das Toben in der Scheune, das Sammeln und Einmachen von Beeren und Pilzen, Baden, Angeln, das Pflücken von Wildblumen. Meine Lieblingsblume ist damals das Weidenröschen. In der Schule lerne ich bei dem alten Rohrstock schwingenden Lehrer Juschka nichts, was sich dann im Winter in der Grundschule in Celle rächt. Das Rechnen fällt mir schwer, vor allem aber die Rechtschreibung: ich kann mich nicht erinnern, je ein Diktat mit weniger als 30-40 Fehler geschrieben zu haben. Ich fühle mich gegenüber den Jungen und Mädchen meiner Klasse hilflos, dumm und ausgelacht, bin stumm und ängstlich und warte sehnsüchtig auf das Ende des Schultages. Um mich beliebt zu machen, klaue ich meiner Mutter manchmal Geld, kaufe mir beim Stand an der Ecke Honigbonbons, die ich dann in der Klasse verteile.
Ich habe auch meine großen Auftritte. Bei Familienfesten fordert meine Mutter mich immer auf, doch mal „mein“ Gedicht aufzusagen. Ich ziere mich dann zunächst, schiebe mich schließlich schüchtern nach vorne, bevor ich dann pathetisch zu sprechen beginne:

Frühlingsglaube

von Ludwig Uhland

Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und weben Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o warmer Klang!
Nun armes Herz, sei nicht mehr bang!
Nun wird sich alles, alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefe Tal:
Nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Obwohl es mir auch peinlich ist: ich bin immer sehr stolz über das Lob, bevor mir dann die grässlich nassen Küsse meiner Tanten den Atem nehmen.
Leider wendet sich für mich nicht alles, sondern kaum etwas. Ich bleibe ein schlechter Schüler, darf nicht, wie ich es will, auf der Volksschule bleiben und Gärtner werden, falle bei der Aufnahmeprüfung zur Realschule durch, werde ein Jahr später aufs Gymnasium geschickt (wo man keine Aufnahmeprüfung machen muss) und quäle mich durch die Schule.

1958
Ich bin in der 12.Klasse des Gymnasiums in Celle gelandet. Noch immer bin ich ein miserabler Schüler mit im Durchschnitt gerade mal ausreichenden Leistungen, mangelhaft in Mathematik und sehr gut in Sport. Ich bin ein guter Kunstturner, ansonsten aber überfordert und werde dort, wo ich Ahnung habe, nicht wahrgenommen. Das betrifft vor allem meine literarischen Kenntnisse. Mit mir und meinen Hilflosigkeiten allein gelassen, flüchte ich in die Literatur: ich lese Sartre, Camus, Beckett, Kafka, Lorca und Musil, lerne Gedichte auswendig und spreche sie vor mich hin; ich sitze in jeder Premiere des Celler Schlosstheaters und schreibe für mich kleine Kritiken. Keiner weiß davon, mein Deutschlehrer nicht und auch nicht die anderen Jungen in der Klasse, vielleicht mein Vater, mit dem ich immer wieder heftige Kontroversen über die moderne Literatur austrage. Dennoch werde ich zum Klassensprecher gewählt, weil ich selbstbewusst auftrete und in der Lage bin, mit Lehrern zu verhandeln und die Interessen der Klasse zu vertreten. Ich fühle mich einsam, habe Schwierigkeiten im Umgang mit den Jungen in meiner Klasse, sehne mich nach einer Freundin, traue mich aber kaum, ein Mädchen anzuschauen. Nur beim Tanzen (bei Jugendgruppentreffen und bei der Tanzstunde) treffe ich mit Mädchen zusammen. Ich bin ein guter Tänzer, weiß aber nicht, wie ich die Mädchen ansprechen soll. Um Aufmerksamkeit zu erregen, ziehe ich mir auffällige Kleidung (ein kornblumenblaues Hemd und einen roten Schal) an und versuche durch ein selbstbewusstes Auftreten Eindruck zu schinden. In Diskussionen gebe ich mich existenzialistisch, bekenne mich zu Sisyphus, der einen Felsbrocken immer wieder auf einen Berg wälzen muss, von dem er dann wieder herabrollt, und vertrete atheistische Positionen. In den Gedichten, die ich liebe und die ich bei meinen kleinen Fluchten in die umliegenden Wiesen und Wälder – meine Lieblingsblume ist damals der Hahnenfuß – vor mich hinsage, klingt das etwas anders, etwa in Rilkes „Herbsttag“:

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

1968
Ich bin Referendar an einem konservativen Jungengymnasium in Osnabrück. Es ist vieles in Bewegung geraten, seitdem ich am 1.Juni 1967, am Tag, an dem Benno Ohnesorge bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin erschossen wurde, mein Staatsexamen in Marburg gemacht habe. Ich habe an Demonstrationen in Berlin, Bonn und Köln teilgenommen und versuche mich in Osnabrück politisch zu positionieren. Ich habe die Leitung der Kampagne für Demokratie und Abrüstung in Osnabrück übernommen und demonstriere mit 8 Leuten (4 alte Kommunisten, 2 Schüler und 1 Student) Ostern durch die Innenstadt. Ich unterstütze durch mein Auftreten, mit finanziellen Zuwendungen und in Diskussionen die beiden Vertreter des Unabhängigen Sozialistischen Schülerverbandes an meiner Schule, lasse mir aus Solidarität mit ihnen einen Bart wachsen, gehe, was damals noch ein Affront war, in Jeans und mit einem offenen Hemd in die Schule und vertrete und verteidige das, was an den Universitäten stattfindet, in Diskussionen im Lehrerkollegium, mit der Schulleitung (der Direktor sitzt für die CDU im Stadtrat) und im Studienseminar. Gemeinsam mit den Schülern organisiere ich den Protest gegen die Namensgebung des Graf von Stauffenberg-Gymnasiums durch den selbsternannten Widerstandskämpfer Eugen Gerstenmeier, helfe der „roten“ Cora, wie die später bekannte Journalistin Cora Stephan damals in Osnabrück genannt wurde, bei der Abfassung einer kritischen Rede, mit der sie bei der Abiturientenabschlussfeier mit ihrer Schule abrechnet, und unterstütze eine Sitzdemonstration, mit denen Schüler und Schülerinnen den Verkehr lahm legen, um gegen Tariferhöhungen zu protestieren.
Ich bin Mitglied in einem deutsch-tschechoslowakischen Arbeitskreis, mit dem wir auf Einladung des dortigen Gewerkschaftsverbandes und des Schriftstellerverbandes von Anfang des Jahres an bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes alle paar Wochen in Prag sind und an Diskussionen mit Politikern, Gewerkschaftlern und Schriftstellern über einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz teilnehmen. Dabei kann ich am eigenen Leibe erleben, was es heißt, Politik nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu leben. Auf den Straßen, in den Kneipen und im Schriftstellerverband treffen sich Leute aus allen sozialen Schichten und MiIieus, trinken, diskutieren, lachen, hören sich zu, fällen Entscheidungen, die am nächsten Tag in der Zeitung stehen, in der Partei beraten und abends wieder in den Kneipen diskutiert werden. Ich komme berauscht von diesen Besuchen in Prag zurück und habe Schwierigkeiten, deutsche Studenten zu verstehen, die kapitalistische Drahtzieher hinter den Reformern in der Tschechoslowakei vermuten. Und ich fühle mich gelähmt, als ich am 20. August während einer Diskussion im Gewerkschaftshaus erfahre, dass russische Panzer in die Stadt einfahren. Hals über Kopf müssen wir Prag verlassen, wo verzweifelte Menschen versuchen, die Panzer aufzuhalten.
Bei allem politischen Engagement – neben den Aktivitäten in Osnabrück und Prag nehme ich an allen großen Demonstrationen in Berlin und Bonn (Notstandsdemonstration) teil – habe ich natürlich auch mit einem nervigen Alltag in der Schule und im Studienseminar zu tun. Ich muss mich gegenüber meinem streng katholischen Fachleiter verteidigen, weil ich mit den Schülern Becketts „gottloses“ Stück „Warten auf Godot“ behandele und es wage, in einer Einheit über die Sprache der Politik die von Springer selbst in Auftrag gegebene „Psychoanalyse der BILD-Zeitung“ zu untersuchen. Im Studienseminar ecke ich an, weil ich gegen die Notstandsgesetze argumentiere, die Aktionen der Studenten verteidige und für die Gesamtschule kämpfe. Für mich selbst, für Freundschaften und eine Beziehung mit einer Frau finde ich keine Zeit, und ich bin unglücklich darüber. Ich wohne in einer kleinen Apartmentwohnung mitten in der Stadt und sehne mich nach einem Garten, in dem nicht nur wie in den städtischen Parkanlagen Rosen blühen, sondern auch Mohn und Rittersporn. Ich fange an zu schreiben, beende ein Buch über Rosengedichte mit dem Titel „Die Rose Schönheit soll nicht sterben“, das ich noch 1967 an der Universität begonnen habe. Das Buch endet mit einem Text von Hans-Jürgen Heise, der zum Ausdruck bringt, wie ich mich damals öffentlich verstehe:

Versprechen

Unkraut,
ich will dein Gärtner sein
in diesen Zeiten,
da alle
die Rosen hätscheln.

In mir sieht es eher so aus, wie in dem Gedicht, das ich damals schrieb:

Keine Worte
von Ich und Du
Gefühle als Abfallprodukte
von Rolling Stones und Godard
Im Auge dich selbst
und dein Auge,
dein Mund
von Worten zerfranst
über Worte gebeugt:
leise, laut- und
schmerzlos – ironisch
gewinkelt
beginnst du
Worte von Ich und Du
Emotionen
Interaktionen
inter
in…

1978
Ich bin Hochschullehrer im Fachbereich Kommunikation und Ästhetik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ich plane, organisiere, leite und betreue Studienprojekte im Rahmen einer Lehrerausbildung, in der Theorie und Schulpraxis aufeinander bezogen sind. Dabei beschäftige ich mich mit der Frage, wie sich Studierende und Schüler/innen so mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen können, dass sie dabei auch ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen und Fantasien einbringen, verarbeiten und veröffentlichen können. Wir erproben, wie das mit Mitteln der Fotografie, des kreativen Schreibens und des szenischen Spiels möglich wird und experimentieren in Hauptschulen mit Lernverfahren, die den situations-, gruppen- und körperbezogenen Haltungen der Schüler und Schülerinnen entgegenkommen. Die Themen werden mir zur Zeit durch die politische Realität in der Bundesrepublik aufgezwungen: 1977 hatte ich mit HochschullehrerInnen aus Berlin, Bremen und Oldenburg einen Dokumentation herausgegeben, die den Nachweis liefern sollte, dass das „Mescalero“-Flugblatt Göttinger Studenten, in dem anfängliche „klammheimliche Freude“ über den Mord der Baader-Meinhoff-Gruppe an Generalstaatsanwalt Buback geäußert wurde, eine Absage an Gewalt als Mittel linker Politik enthält. Das Flugblatt, das nur in Auszügen bekannt geworden war, hatte eine öffentliche Empörung und zahlreiche Übergriffe der Polizei ausgelöst. Nach der Veröffentlichung der Dokumentation gerieten nun wir als Hochschullehrer in den Focus der Anschuldigungen, wurden als Sympathisanten und Unterstützer denunziiert. Die Landesregierung in Niedersachsen leitete ein Disziplinarverfahren gegen uns mit dem Ziel der Entlassung aus dem öffentlichen Dienst ein. Das Jahr 1978, das Jahr vor dem Prozess gegen uns vor dem Oberlandesgericht in Oldenburg, steht im Zeichen dieser Ereignisse. In zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und in Zusammenkünften der Herausgeber werden die Dokumentation, die Reaktionen der Presse, des Staates, der Kollegen, der politischen Gruppen und unsere Strategien und Haltungen diskutiert. Ich sehe mich damals als Gesinnungstäter, da ich als Verfechter eines erfahrungsbezogenen Unterrichts der Meinung war, dass Gewaltprävention und Gewaltverarbeitung ohne eine Veröffentlichung von Gewaltphantasien nicht möglich waren. In den Semesterferien ziehe ich mich nach Berlin zurück und setze mich schriftlich mit den Ereignissen auseinander. Nach ausführlichen Diskussionen mit Studierenden und Kollegen unterschreibe ich die uns von der Landesregierung aufgezwungene Treueerklärung, die ich ja schon einmal beim Beamteneid abgegeben hatte. Mein Seminar zum erfahrungsbezogenen Literaturunterricht leite ich mit einer Lesung des Mescalero-Flugblatts ein und erläutere, warum ich es für richtig und notwendig halte, solche Texte zu schreiben und zu veröffentlichen. In einem anderen Seminar beginne ich mit Studierenden Lehrstücke von Brecht zu spielen, wobei es uns darum geht, eigenen Phantasien und Haltungen in Gewaltsituationen zu untersuchen. Mit einem langen Brief reagiert Reiner Steinweg, der die Brechtschen Lehrstücktheorie rekonstruiert hatte, auf meine Verarbeitung der politischen Ereignisse. Darüber und durch das gemeinsame Lehrstückspiel entsteht eine lange Freundschaft.
Wir – Birgit, mit der ich nun schon seit sechs Jahren verheiratet bin, meine 3jährige Tochter Anne und ich – wohnen mit anderen in einem großen Haus, das einmal dem Hofgärtner von Rastede gehört hat, in Neusüdende auf dem Lande 15 Km von Oldenburg entfernt – umgeben von riesigen Rhododendron-Büschen und den zarten Azaleen, die mich besonders beeindrucken. Obwohl wir drei uns gut verstehen, finde ich nicht die Zeit, genug mit ihnen zu unternehmen. Immerhin singe ich Anne abends in den Schlaf und mache aus Fotos, die ich selbst aufgenommen und entwickelt habe, Bilderbücher.
Ich gehe in meiner Arbeit auf. Es ist keine Zeit für Gedichte, eher für Texte von Bertolt Brecht wie

Über die Gewalt

Der reißende Strom
wird gewalttätig genannt,
aber das Flussbett, das ihn einengt,
nennt keiner gewalttätig

Der hilflose Knabe
Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und erzählte folgende Geschichte: „Einen vor sich hinweinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines Kummers.“Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen“, sagte der Knabe, „da kam ein Junge und riss mir einen aus der Hand“, und er zeigte auf den Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war. „Hast du denn nicht um Hilfe geschrieen?“ fragte der Mann. „Doch“, sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. „Hat dich niemand gehört?“ fragte ihn der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. „Nein“, schluchzte der Junge. „Kannst du denn nicht lauter schreien?“ fragte der Mann. „Dann gib auch den her.“ Nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter.“

1988
Aus den Erfahrungen mit dem Lehrstück von Brecht und dem szenischen Spiel habe ich das Konzept der szenischen Interpretation entwickelt, das Schüler/innen, Studierenden und Lehrer/innen die Möglichkeit eröffnet, sich in die in Dramentexten entworfenen Rollen und Szenen einzufühlen und im Spiel etwas über sich selbst und die dort entworfenen historisch, kulturell und sozial fremden Menschen und sozialen Dramen in Erfahrung zu bringen. Nach zahlreichen Projekten in der Schule, der Universität und in der Lehrerfortbildung werte ich nun Erfahrungen aus, erstelle Dokumentationen, führe Fortbildungen durch und beginne an der Universität mit der Ausbildung von Spielleiter/innen, auch um Lehramtsanwärter/innen und Diplompädagog/innen größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. Im Mittelpunkt meiner Seminare stehen zur Zeit im Rahmen der Geschlechterforschung die Haltungen und Beziehungen von Frauen und Männern in unterschiedlichen sozialen Situationen.
Das Jahr verläuft für mich chaotisch. Birgit und ich haben in Oldenburg ein Haus mit einem großen Garten gekauft, das wir uns zurecht gebaut haben. Unsere Ehe gerät in eine Krise, als ich mich in eine jüngere Frau verliebe und in eine Beziehung gerate, die mich aus dem Gleis wirft. Um mit der Frau an Wochenenden zusammen zu sein und Birgit nicht zu sehr zu belasten, wohne in immer neuen Wohnungen, verliere meine Sicherheit mit mir und der Universität. In den Semesterferien fliehe ich nach Griechenland. Dort lerne ich die Distel als Blume schätzen und schreibe Gedichte:

Im Lichtkeil des Mondes
zieht uns das Meer
nach Süden:
Traumschiff, traumlos.
Silbern
löst sich auf,
was ich gestern
noch festgehalten habe.

Die Blume,
die ich verschenkte,
trägt mein Gesicht.
Erst wenn sie welkt,
wirst du merken,
dass sie
geschnitten wurde.

Im Herbst geht die Liebesbeziehung abrupt zu Ende. Ich bin erschöpft, kann nicht einfach in die Ehe zurück und ziehe mich schließlich in ein eigenes Haus zurück.

1998
In den Lehr-, Fortbildungs- und Forschungsprojekte zum Szenischen Spiel und zu szenischen Interpretation konzentriere ich mich nur noch auf Inhalte, die mich aus politischen Gründen beschäftigen: der Umgang mit dem Fremden ( Migrant/innen, Sinti und Roma, Türkische Jugendliche der zweiten und dritten Generation in Deutschland, Skinheads), Jugend und Gewalt, Holocaust, Rechtsradikalismus, Alltag im „Dritten Reich“. Darüber hinaus rückt die Haltung, die ich als Hochschullehrer und Mann in Seminaren einnehme und zeige, immer mehr ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Zusammen mit Wolfgang Nitsch und Studenten werte ich ein Forschungsprojekt aus, in dem wir die Haltung von Hochschullehrern als Männer mit Mitteln des szenischen Spiels erforscht haben. Wolfgang und ich konzentrieren uns auf unsere eigenen Haltungen und erkunden vor Ort und in zahlreichen Gesprächen biografische Hintergründe. Im Frühjahr führe ich an zwei Universitäten in Kasachstan Fortbildungen mit Dozenten durch, die Deutsch als Fremdsprache lehren. Ich werde intensiv in das fremde Land eingeführt, es entstehen Freundschaften, die sich bis heute gehalten haben; als Ehrengast bei einer repräsentativen kasachischen Hochzeitfeier singe ich vor 450 Gästen „Der Mond ist aufgegangen…“
Meine private Situation hat sich grundlegend geändert. Seit drei Jahren bin ich mit Christine zusammen, die ich auf einem Skikurs in Norwegen kennen und lieben gelernt habe. Sie lebt in einer Dorfgemeinschaft in Kriesebyau an der Schlei in Schleswig Holstein, an den Wochenenden treffen wir uns im Wechsel dort und in Oldenburg. Ich lerne an Wochenenden nicht mehr zu arbeiten und entdecke alte und neue Bedürfnisse wieder: das Leben auf dem Land, die Gartenarbeit, das Kochen und das Reisen. Ich begeistere mich für die Stockrosen in Schleswig Holstein und die Olivenbäume in Portugal (wo wir im Sommer sind) und in Griechenland. Es entstehen folgende Gedichte:

Gelb
nimmt mir der Duft
den Atem
vom Raps, der
Sonnensegel
über die Felder
spannt.
Während der Ostwind
noch immer
den Himmel aufraut,
haben die Bäume
Blätter angelegt
und träumen
vom Sommer.

 

Olivenbäume

In Stein
gemeißelt,
in die Sonne
gedreht,
in Winden
zerzaust,
ist deine Haut
faltig geworden
und dein Herz
alt:
dennoch
trägst du
weiter
Jahr um Jahr
deine Früchte

2008
Seit meiner Pensionierung lebe ich nun mit Christine, mit der ich seit 6 Jahren glücklich verheiratet bin, hier in einer kleinen Dorfgemeinschaft in Schleswig Holstein. Ich fühle mich wohl in dieser Gemeinschaft, in der jeder so leben kann, wie er das will, in der in Vollversammlungen über gemeinsame Projekte beraten wird, Gemeinschaftsaufgaben erledigt werden müssen, aber auch viel gefeiert wird. Für mich ist es gut, je nach Bedürfnis mit vertrauten Menschen sprechen zu können und mich jederzeit zurückziehen zu können. Ich habe mehrere Gärten angelegt – einen Staudengarten vor unserem Haus um den Wintergarten herum, einen Gemüsegarten mit Gewächshaus oben auf der Koppel, der uns über das Jahr hin mit Gemüse versorgt, und einen grünen Naturgarten um zwei Bauwagen herum am Rande des Dorfes, in dem ich meinen ästhetischen Vorstellungen Raum geben, in den ich mich zurückziehen und meinen Holz- und Steinarbeiten nachgehen kann. Die Gartenarbeit, die ich genieße, nimmt viel Zeit in Anspruch, aber sie kommt meiner Langsamkeit entgegen. Die Pflanzen, die mir am meisten bedeuten, sind der Bambus, den ich in verschiedenen Varianten pflege, und die Artischocke, die ich nicht nur zum Essen, sondern auch wegen ihrer großen blauen Blüten oben im Gemüsegarten anbaue.
Ich stehe früh auf, laufe jeden zweiten Tag ca. 8 km durch Felder, Wiesen und an der Schlei entlang, koche jeden Abend gut – v.a. Fisch und Gemüse nach asiatischen Rezepten, lese zwei Zeitungen. Häufiger fahren wir nach Kiel ins Kino und, wenn Christine ein längeres Wochenende hat, nach Oldenburg, Hamburg und Berlin, um ein wenig Kultur zu tanken und Freunde und Freundinnen zu besuchen. Und dann sind da natürlich die Kinder und die Enkel. Die Beziehung zu meiner Tochter Anne, die in Hamburg wohnt und die seit einem Jahr mit Dui, der aus einer laotischen Familie stammt, verheiratet ist, ist intensiver geworden. Damian, ihr inzwischen 7 Jahre alter Sohn, besucht uns hin und wieder. Gerade hat Anne noch ein kleines Mädchen bekommen. Und da ist natürlich Milan, der Enkelsohn von Christine, der mich nach anfänglichem Fremdeln inzwischen akzeptiert. Es ist berührend, als Opa mit kleinen Kindern umzugehen, auch wenn ich wie immer bei Kindern sehr zurückhaltend bin: ich beobachte, mache kleine Angebote, drängle mich nicht auf, bin da, wenn ich gebraucht werde.
Bei aller Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation: ich brauche neue Herausforderungen, die aber nichts mehr mit meiner früheren Tätigkeit zu tun haben. Im Frühjahr habe ich noch einmal mit relativ großen innerlichen Widerständen ein letztes Buch zur „Szenischen Interpretation“ fertiggestellt und ein Zeitschriftenheft zum Szenischen Spiel in der Lehrerbildung mit herausgegeben. Nun habe ich mich in die Gemeindepolitik eingemischt. Seit einem Jahr engagiere ich mich in einem “Arbeitskreis gegen Rechtsextremismus“, der sich gegen die Aktivitäten rechter Jugendlicher und ihrer erwachsenen Drahtzieher wendet. Ich bin Mitglied im Präventionsrat der Gemeinde und habe mich schließlich als Parteiloser für die Grünen in den Gemeinderat wählen lassen, wo ich mich v.a. um die Bildungs- und Schulpolitik, um die offene Jugendarbeit, um die Kultur und die Umweltpolitik kümmern möchte. Wie immer in der Opposition versuche ich über Gespräche und Aktionen soviel wie möglich für diejenigen herauszuholen, die keine Lobby haben: die Kinder, die perspektivlosen Jugendlichen, die alten Menschen. In einer kleinen Gemeinde ist das mit Beziehungsarbeit über die Parteigrenzen hinaus verbunden. Und schließlich habe ich noch ein anderes Bedürfnis wiederentdeckt. Als Alternative zum Pädagogenberuf habe ich immer mal damit geliebäugelt therapeutisch zu arbeiten. Ich habe das nicht getan, weil ich aus meiner Fähigkeit, mich einzufühlen und Haltungen und Beziehungen durchschauen zu können, keinen Beruf machen wollte. Jetzt, wo ich älter, gelassener und weniger bedürftig geworden bin und wo Menschen, die mir wichtig waren, von Krankheiten betroffen werden, merke ich, dass ich sie neu und intensiver wahrnehmen und ihnen helfen kann, mit der neuen Situation produktiv umzugehen, und dass ich dabei auch viel über mich und den Umgang mit meinem Alter, meinem Körper, mit Verletzungen und Krankheiten lerne. Das Gedicht, dass meine heutige Situation am besten zum Ausdruck bringt, habe ich zum Wechsel des Jahres geschrieben:

Mauer-Blicke

Als Kind
habe ich mit Lust
Mauern gebaut und umgeworfen.

Später
bin ich gegen sie gerannt,
und hab sie
immer wieder aus sicherer Distanz
gestürmt
und die Wunden geheilt
vom Rennen
gegen die Mauern.

Mühsam
habe ich gelernt,
die Arbeit zu sehen,
die Schönheit und die Schatten
und Blicke zu werfen
im Schutze
von Mauern.

Heute
trage ich
Stein für Stein
Mauern ab,
um Wege zu legen
und Ruheplätze
in die Gärten.

Wer Mauern kennt,
braucht keine mehr zu bauen.

(Kriesebyau 2008)

2013

Ich bin 75 Jahre alt geworden und lebe weiter mit Christine in Kriesebyau, wo ich inzwischen Anteilseigner geworden bin. Noch immer laufe ich frühmorgens bei jedem Wetter alle zwei Tage meine 7 km, im Sommer unterbrochen durch ein Bad in der Schlei. Noch immer pflege ich meine Gärten, schnitze Skulpturen – in den letzten Jahren vermehrt aus Efeu – und fotografiere. Vor allem das Fotografieren ist mir nicht zuletzt wohl auch wegen meiner Sehstörungen und Augenoperationen wichtig geworden. Mit einer einfachen Digitalkamera, die ich ständig bei mir trage, suche ich immer im Vergrößerungsmodus nach Formen und Farben, die sich dem Alltagsblick entziehen. Nach langem Suchen habe ich dabei ein Motiv entdeckt, dem ich immer neue abstrakte Bilder abgewinnen kann: Spiegelungen von Objekten im Wasser, die von Wellen bewegt werden. Ich lasse Abzüge von ausgewählten Bildern machen, gestalte Bildbände, lasse Bilder vergrößern (auf Fotopapier und Leinwand) und habe Bilder und Holzskulpturen zum Thema “Zerspiegelungen” ausgestellt, weitere Ausstellungen werden im Herbst in Hann.Münden und Frühjahr in Dorum bei Bremerhaven stattfinden.
Christine hat aufgehört zu arbeiten. So haben wir mehr Zeit für und miteinander: Zeit für Gespräche über Politik, psychologische Fragen, über Bücher, Filme, unsere Biografien, über die Kinder und Enkelkinder; Zeit für kulturelle Aktivitäten, für Besuche und Reisen. Aber wir haben und pflegen auch unsere eigene Bereiche und nehmen uns die Zeit dafür – ich für meine Gärten, meine Skulpturen und Fotografien, Christine für die Enkelkinder und ihre Mediatorentätigkeit in einer Schule.
Das Leben in der Dorfgemeinschaft ist lebendiger und lauter geworden. Junge Familien mit kleinen Kindern sind zugezogen und bestimmen einen wichtigen Teil der Aktivitäten im Dorf. Als Ältester nehme daran nur punktuell teil, auch weil mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein größer geworden ist.
Nach 5 Jahren Arbeit für die Grünen im Gemeinderat Rieseby habe ich mich nicht mehr zur Wahl gestellt. Die Erfahrungen in der Kommualpolitik waren nützlich. Sie haben mir gezeigt, dass es jenseits ideologischer Diffenzen möglich ist, auf lokaler Ebene auch aus einer Minderheitenposition heraus zu sozial und ökologisch vertretbaren Kompromissen und Entscheidungen zu kommen. Nach den Neuwahlen engagiert sich nun Christine für die Grünen im Gemeinderat.
Mein Interesse an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen hat nicht nachgelassen. Ausführlich informiere ich mich täglich bei der Lektüre zweier Zeitungen, im Radio und im Fernsehen über die aktuellen Ereignisse, errege mich über Ungerechtigkeiten und Ausbeutung, solidarisiere mich mit Protestbewegungen und den Menschen, die in Deutschland, Griechenland, Portugal, Spanien und in der Dritten Welt den neoliberalen Strategien von Politik und Ökonomie zum Opfer fallen.
Zunehmend mehr interessiert mich meine Geschichte und die Geschichte meiner Eltern. Zur Zeit bin ich dabei, endlich das Leben meines Vaters in der Jugendbewegung und im Reichsarbeitsdienst aufzuarbeiten – auch um besser zu verstehen, wie ich bin, geworden bin und nicht werden will.
Auf meiner Fensterbank züchte ich Mimosen, die ich mal aus Griechenland mitgebracht habe. Das Gedicht, das mir zur Zeit am liebsten ist:

 

Spiegelbilder

 

Die Schiffe im Hafen stehen Kopf
und zerfallen in ihre Teile.
Vom Himmel getönt
legen Wellen an
und hinterlassen Falten.
Farben laufen aus
und zerspiegeln den Blick.
Halte ein,
hole heran,
halte fest,
bevor dir die Zeit
die Sicht nimmt
und die fremden Bilder.
Wer mit der Zeit geht,
hat Schwierigkeiten
gegen den Strom zu schwimmen.

(Kriesebyau 2013)